Erläuterungen

Wer in Berlin den Blick über das schier endlose Häusermeer schweifen lässt, mag sich wundern, dass neben den Hochhäusern der Nachkriegszeit so viele spitze Kirchtürme das Panorama der Berliner Stadtlandschaft beleben. Sie gehören meistens zu neugotischen Kirchenbauten aus der Zeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. In diesen Jahrzehnten der Kaiserzeit hat sich Berlin zur größten Mietskasernenstadt der Welt, zur größten Industriestadt und zur Kulturmetropole Deutschlands ausgewachsen. Dort, wo damals die Wohndichte in lichtlosen Mietskasernen am höchsten war, sind heute die meisten Kirchtürme zu sehen.

In Berlin sind etwa 350 christliche Kirchen zu finden, überwiegend evangelische, ein Drittel katholische (unterscheidbar durch die Konvention, dass die evangelischen in ihrem Namen das Wort „Kirche“ enthalten, die katholischen nicht). Rund 100 Kirchen besitzen einen Turm von 50 m Höhe oder darüber und überragen somit die Mietskasernen mindestens um das Doppelte, sind also in der Stadtlandschaft leicht auszumachen. Bei normal guter Sicht kann man mit einem Fernglas Türme bis zu einer Entfernung von etwa 10 km erkennen. So sind etwa 40 Kirchtürme von einem Standpunkt im Stadtbereich auszumachen.

Zur Angabe der Kirchturmhöhen hier einige Anmerkungen. Die Wahrnehmung von Höhe ist eine sehr unsichere Sache. Versucht man die Höhe eines Turmes zu schätzen, so wird man von der perspektivischen Täuschung genarrt: nur die Fernsicht vermittelt den Eindruck der wahren Höhe, bei Annäherung schrumpft die empfundene Höhe! Die in den Publikationen über Berliner Kirchen angegebenen Kirchturmhöhen sind oft falsch, widersprüchlich oder merkwürdig identisch, dabei stets ohne Quellenangabe. Aus diesem Grunde habe ich insbesondere bei den großen Kirchen eigene Vermessungen (mit Genauigkeiten bis in den cm-Bereich) durchgeführt und im Text genannt. Hier noch einmal einige Details zur Sichtbarkeit der Kirchtürme. Noch einmal hier die Liste mit den 10 größten Kirchtürmen, sortiert nach der Bauhöhe:

Platz 1: Berliner Dom (Mitte) 98,8 m
Platz 2: St.-Marien-Kirche (Mitte) 89,7 m
Platz 3: Kirche Am Südstern (Kreuzberg) 89,0 m
Platz 4: Heilands-Kirche (Moabit) 86,8 m
Platz 5: Apostel-Paulus-Kirche (Schöneberg) 85,2 m
praktisch gleichauf mit
Platz 6: Luther-Kirche (Schöneberg) 85,1 m
Platz 7: St. Sebastian (Gesundbrunnen) 83,6 m
Platz 8: St.-Nicolai-Kirche (Mitte) 81,8 m
Platz 9: Neue-Nazareth-Kirche (Wedding) 78,7 m
Platz 10:Johannes-Basilika (Neukölln) 78,0 m

Für die Sichtbarkeit im Panorama aber ist die absolute Höhe der Kirchturmspitze über dem Meeresspiegel entscheidender. Danach sieht die Rangfolge so aus:

Sortiert nach der absoluten Höhe:
Platz 1: Berliner Dom (Mitte) 133,8 m
Platz 2: Segenskirche (Prenzlauer Berg) 126,6 m
Platz 3: Südstern-Kirche (Kreuzberg) 125,5 m
Platz 4: St.-Marien-Kirche (Mitte) 125,3 m
Platz 5: Apostel-Paulus-Kirche (Schöneberg) 121,2 m
Platz 6: Zionskirche (Mitte) 121,1 m
Platz 7: Heilandskirche (Moabit) 120,8 m
Platz 8: St. Sebastian (Gesundbrunnen) 120,1 m
Platz 9: Luther-Kirche (Schöneberg) 119,8 m
Platz 10: St. Georg (Pankow) 118,1 m

Die Segenskirche auf dem Prenzlauer Berg besitzt die höchste Kirchturmspitze im Berliner Panorama!

Das dritte Kriterium für die Wahrnehmbarkeit in der Stadtlandschaft sind die "Sichtachsen", nämlich die Anzahl der auf das Gebäude gerade zulaufenden Straßen. Die meisten Berliner Kirchen, oft eingezwängt in die Mietskasernenfront, besitzen gar keine Sichtachsen.

Hier folgt eine Liste einiger im Straßenbild begünstigter Kirchen:
Mit sechs Sichtachsen sind ausgezeichnet: die Bethanien-Kirche in Weißensee, die Kirche Zum Guten Hirten in Friedenau, die kleine Tabor-Kirche in Rahnsdorf.
Fünf Sichtachsen besitzen die Zionskirche (Mitte), die Kirche am Südstern (Kreuzberg), die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche (Charlottenburg).
Vier Sichtachsen haben die Luisen-Kirche (Charlottenburg), die Königin-Luise-Gedächtnis-Kirche (Schöneberg), die Genezareth-Kirche (Neukölln), die St. Antonius und St. Shenuda-Kirche (Lichtenberg),
Drei Sichtachsen besitzen die Emmaus-Kirche (Kreuzberg), St. Marien (Wilmersdorf), St. Ludwig (Wilmersdorf), die Paulus-Kirche (Lichterfelde), die Luther-Kirche (Schöneberg), die Nathanael-Kirche (Schöneberg).
Gut 20 Kirchen besitzen zwei Sichtachsen (darunter viele auf dem Anger stehende Dorfkirchen), etwa 40 eine, und rund 200 Kirchen zwar einen Turm, aber keine Sichtachse.

Warum hohe Kirchtürme? Neben religiösen und repräsentativen Gründen sollte man die praktische Seite nicht vergessen: nur wenige Menschen besaßen zur Gründerzeit (vor etwa 130 Jahren) eine Uhr, kaum jemand einen Stadtplan und niemand ein Radio! Kirchtürme waren Wegweiser, zeigten die Uhrzeit im Hellen, ließen sie im Dunklen ertönen, und übermittelten Nachrichten (Feueralarm!) entsprechend einer "Läute-Ordnung". Hoch mussten die Türme sein wegen der Sichtbarkeit, für einen weiten "akustischen Horizont" und gegen die Abschattung des Schalls durch die Mietskasernenfront!

Berlin ist seit dem 1.1.2001 in 12 Bezirke (=Verwaltungsbezirke) gegliedert. Diese sind in Ortsteile aufgeteilt, und damit beginnt hier einige Konfusion:
Erstes Beispiel. Das Amtsgericht Wedding (sehenswert), früher im Bezirk Wedding gelegen, jetzt im Bezirk Mitte, liegt im Ortsteil Gesundbrunnen und hat örtlich mit dem Wedding, der vom Bezirk zu einem gleichberechtigten Ortsteil neben Gesundbrunnen "herabgestuft" wurde, nichts mehr zu tun.
Zweites Beispiel: Wieviele Ortsteile hat Berlin? Die Zahl wird Ihnen kaum ein Berliner nennen können. Der vielbenutzte, auf amtlichen Unterlagen beruhende "KAUPERTs: Straßenführer durch Berlin" listet 84 amtliche Ortsteile auf (2005), nach denen ich diese Sammlung gegliedert habe. Berlin besitzt aber viel mehr "Unter-Ortsteile", oft mit ausgeprägtem Charakter. Wenn man also z.B. Stralau, Pichelsdorf, Neu-Venedig, Borsigwalde usw. dazunimmt, kommt man leicht auf über 150. Es sind nämlich die Ortsteile und Siedlungen, nicht die Verwaltungsbezirke, in denen sich Geschichte und Eigenart der Patchwork-Stadt Berlin finden lässt!

Merkwürdig ist auch die Dokumentation der Kirchen. Das beginnt mit den Stadtplänen, wo z.B. ein marktführender Verlag für die Kirchen schwarze Kreuzchen kreuz und quer ins Kartenbild druckt, fast alle ohne Namensangabe, sie auch nicht im Textteil auflistet (dafür aber sämtliche Kleingärten). Wie findet man damit zu eine Veranstaltung in der populären Passionskirche? Nicht viel besser steht es mit den meisten Berlin- Führern. Die zahlreichen neugotischen Kirchen sind dort kaum der Erwähnung wert.

Noch einmal zurück zum Blick auf die Berliner Stadtlandschaft und ihren Horizont. Auf dem ersten Photo hier blicken Sie von einer Dachterrasse, nahe der Gedächtniskirche am Zoo, über den Tiergarten hinweg durch die zwei Süd-Ecktürme des Reichstagsgebäudes, rechts von der Kuppel.




















Auf dem zweiten Photo, Standort 20 m weiter nördlich auf der gleichen Dachterrasse, haben sich die Kuppel der Synagoge, der Kirchturm von Herz-Jesu und der Wasserturm vom Prenzlauer Berg in die Lücke zwischen die beiden Ecktürme geschoben. Dies zeigt, dass sich schon bei einem leichten Wechsel des Standpunkts eine verblüffend andere horizontale Perspektive ergeben kann, die eine vertraute Anordung bekannter Gebäude völlig durcheinander bringt. Wollen Sie also wissen, was sich wo befindet, sollten Sie einzelne Bauwerke erkennen können. Vielleicht auch im spielerischen Sinne wie: „Ich sehe was, und das ist grün – das ist der Kirchturm von Sophien“.

Viel Spaß also beim Entdecken der Kirchtürme in der Berliner Stadtlandschaft!



Ausgewählte Literatur:

Der erste gemeinsame Kurzführer zu allen evangelischen und katholischen Kirchen in Berlin, aktuell und sehr empfehlenswert:

Christine Goetz, Matthias Hoffmann-Tauschwitz (Hrg.): Kirchen Berlin Potsdam, Wichern-Verlag, Morus Verlag, 2003

Sämtliche evangelische Kirchen mit kleinen Schwarz- Weiß-Photos und einer sehr protestantischen Einführung, nicht ganz aktuell:

Günther Kühne, Elisabeth Stephanie: Evangelische Kirchen in Berlin CZV Verlag Berlin (Christlicher Zeitschriftenverlag Berlin), 1978, 2. Auflage 1986

Architektur katholischer Kirchen mit einigen Baumaßen:

Gebhard Streicher, Erika Drave: Berlin Stadt und Kirche, Morus Verlag, Berlin 1980

Zum Spezialthema Berliner Dorfkirchen ein aktuelles und schön gestaltetes Buch:

Christel Wollmann-Fiedler, Jan Feustel: Alte Dorfkirchen in Berlin, Berlin Edition, 2001

Eine kundige Geschichte der Berliner Dorfkirchen, daneben auch ein Zeitdokument seiner Entstehungszeit im kriegszerstörten Berlin:

Walter C. Türck: Die Dorfkirchen von Berlin, Evangelische Verlagsanstalt Berlin, 1950

Der Klassiker zu Berlins 55 Dorfkirchen, ein handliches Büchlein mit vielen Grundrissen vom Verfasser, einem Vermessungsingenieur:

Kurt Pomplun: Berlins alte Dorfkirchen, Verlag Bruno Hessling, Berlin 1962, 1963, Vierte Auflage: Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung Berlin, 1973

Eine umfassende Darstellung zur Geschichte vieler Berliner Ortsteile:

Hans-Hürgen Rach: Die Dörfer in Berlin. Ein Handbuch der ehemaligen Landgemeinden im Stadtgebiet von Berlin, VEB Verlag für Bauwesen, Berlin 1988

Das Standardwerk mit Daten zu Berliner Bauwerken:

Architekten- und Ingenieruverein zu Berlin (Hrsg.): Berlin und seine Bauten, Teil VI Sakralbauten, Ernst & Sohn, Verlag für Architektur und technische Wissenschaften, Berlin 1997

Große Klasse ist das wohl nur noch schwer erhältliche Heft, das die spezifisch Berlinische Kirchengeschichte anschaulich darstellt:

Wilhelm Dittmann, Georg von Glowczewski, Frank Pauli, Manfred Richer, Reinhard Stawinski: Berlin - 750 Jahre Kirchen und Klöster, Sonderausgabe Bild Atlas, 1987

Als Bildbände zur Architektur sind interessant:

Wolfgang Gottschalk: Altberliner Kirchen in historischen Ansichten, Weidlich, 1985, ISBN 3 80035 1262 X
Karl-Ludwig Lange, Peter Bloch, Richard Schneider:
Bauwerke der Neugotik, Nicolaische Verlagsbuchhandlung Berlin, 1984

Eine Fundgrube an Informationen zu dem eher sperrigen Thema der Berliner (auch neuesten) Geschichte bietet:

Herbert Schwenk: Lexikon der Berliner Stadtentwicklung, Haude & Spener, 2002

Die Geschichte einiger evangelischer Kirchen und ihrer Gemeinden steht im Vordergrund bei folgenden Autoren:

Ernst Badstübner, Sibylle Badstübner: Kirchen in Berlin, Ev. Verlagsanstalt Berlin, 1987
Jürgen Boeckh: Alt-Berliner Stadtkirchen, Band 1 und Band 2, Haude & Spener 1986
Dr. Wilhelm Lütkemann, Deutsche Kirchen, Band 1, Die evangelischen Kirchen in Berlin (alte Stadt), Verlag für Volksliteratur / Berlin 1926

Geschichte und Geschichten einiger Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel sind aktuell zu finden in:

Sven Scherz-Schade, Kirchen in Berlin, Berlin Story Verlag, 2005

Mein bevorzugter Stadtplan mit allen Kirchen (und hervorragender Karthographie):

Berlin, KNICK MICH Verlag e.K., Ausgabe 2006/2007

Hinweise zur perspektivische Täuschungen infolge der Empfindung eines "gekrümmten Sehraums" findet man in:

Herrmann von Baravalle, Physik als reine Phänomenologie, Band 2, Verlag Freies Geistesleben.

Das Räumliche als künstlerischer Ausdruck steht im Zentrum des alten Klassikers:

Wilhelm Pinder, Deutsche Dome, in der Reihe "Die Blauen Bücher", Verlag Karl Robert Langewiesche, um 1916.

Dieses faszinierende Buch ist mir erst spät in die Hände gekommen und nur noch antiquarisch erhältlich:

Walter Born, Die hohen deutschen Kirchtürme, Verlag August Lax Hildesheim, 1979.